«Aussensicht 1»

Interview von Peter Krebs mit Psychologe Andreas Wöhrle
«Ein bisschen Leidenschaft gehört dazu»
aus der NZZ vom 26.12.2012; mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung


Modelleisenbahner werden manchmal belächelt. Ist das aus psychologischer Sicht berechtigt?
Ich verstehe überhaupt nicht, warum man das belächeln soll. Eine schöpferische Tätigkeit äussert sich bei jedem Menschen und in jeder Zeit in unterschiedlicher Weise. Bei den einen ist es der Modellbahnbau, bei den anderen der Tanz, die Gartenpflege oder die Musik. Gerade im Spiel entsteht eine Welt, die nicht nur äusserlich ist, sondern die stark mit der Psyche in Verbindung steht und ihr sichtbar Gestalt gibt.


Man muss also nicht befürchten, dass die Modelleisenbahner regredieren und sich weigern, erwachsen zu werden?
Natürlich regredieren sie ein Stück weit. Aber das tun wir alle, wenn wir schöpferisch tätig sind. Es verhilft uns zu einer Öffnung, aus der überraschende Werke, Formen und Farben entstehen können. Von einer «Modelleisenbahn-Pathologie» kann man bestimmt nicht reden. Dann müsste man die Leidenschaft als krankhaft einstufen. Aber wo kämen wir hin, wenn wir die Leidenschaft verlieren würden!


Müssten wir also eher fragen, warum andere Hobbys, wie etwa das Motorradfahren, ein höheres Prestige geniessen als der Bau von Modelleisenbahnen?
Ich kann nicht schlüssig beantworten, warum das so ist. Vielleicht hängt es tatsächlich damit zusammen, dass das «Isebähnle» sich zum ersten Mal in der Kinderstube manifestiert, während das Motorradfahren mit dem Jugendalter in Verbindung gebracht wird. Aber möglicherweise hat es auch mit den Vorstellungen zu tun, die man den Modelleisenbahnern zuschreibt, und weniger damit, was diese wirklich tun. Man stellt sich vor, wie solche Anlagen irgendwo auf einem Estrich betrieben werden. Sie haben dann etwas Museales.


Welche psychologische Funktion hat denn das Hobby?
Aus dem Zusammenbau der verschiedenen Teile entsteht irgendwann ein Ganzes. Es ist also ein sehr sinnliches Erlebnis. Man kann die Anlage berühren, anschauen und während des Baus sogar riechen. Das fertige Werk bildet eine Art Protokoll, bei dem die einzelnen Schritte und die damit verbundenen und überwundenen Schwierigkeiten für den Hersteller nachvollziehbar sind. Das ist ein Teil der Faszination.


Und nach dem Bau nimmt man die Anlage in Betrieb und spielt damit.
Ich habe den Bau meiner eigenen Märklin-Anlage als durchaus spannend in Erinnerung. Das «Isebähnle», das Spielen, empfand ich aber als sehr langweilig. Aber das Spiel soll ja seinen Reiz behalten. Vielleicht befassen sich die Modelleisenbahner aus diesem Grund immer wieder mit dem Werk, um es zu verändern, umzubauen, zu erneuern. Auf diese Art finden ihre Phantasien jeweils eine neue «Heimat», so dass sich jemand während Jahrzehnten in sein Hobby versenken kann, ohne dass dieses seine Attraktivität verliert.


Es gibt Modelleisenbahner, die grosse und teure Sammlungen anlegen. Besteht Suchtgefahr?
Das glaube ich kaum. Es könnte höchstens dann suchtartig werden, wenn sich jemand deswegen in eine schwierige Lebenslage manövriert, indem er sich verschuldet oder seine Verpflichtungen gegenüber der Familie und der Arbeit vernachlässigen würde. Oder wenn sich jemand plötzlich in dieser Modellwelt stärker zu Hause fühlen würde als in der Realität. Das kann ich mir aber kaum vorstellen. Die Modelleisenbahn hat durchaus einen starken Bezug zur Realität, zur «richtigen» Eisenbahn. Sie ist etwas Haptisches, das man mit Händen greifen kann.


Kann eine Modellanlage den Charakter einer Ersatzwelt bekommen, die man besser beherrscht und durchschaut als die komplizierte Wirklichkeit?
Das kann schon sein. Aber bei einer Eisenbahnanlage ist eine grosse Eigenleistung gefordert und somit auch die Auseinandersetzung mit Materialien und Technik. Deshalb geht der Bezug zur Realität nicht so schnell verloren. Die Virtualität des Internets birgt schon eher die Gefahr, dass sich die Grenzen zu verwischen beginnen, weil man mühelos von der einen auf die andere Ebene wechseln kann. Warum sollte man sich keinen Rückzugsort aufbauen? Andere Leute schauen sich einen Film an oder lesen ein Buch. Auch sie können darin für einen Moment lang abtauchen und die Wirklichkeit vergessen. Wichtig ist, dass sie sich dessen bewusst ist.

Andreas Wöhrle ist Psychotherapeut mit einer eigenen Praxis in St. Gallen.