«Aussensicht 2»

von Peter Krebs
Die grosse Welt der kleinen Bahnen
aus der NZZ vom 26.12.2012; mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung


Für den ernsthaften Modelleisenbahner ist sein Hobby kein Kinderspiel. Zum Bau der Anlagen braucht es technische, handwerkliche und gestalterische Fertigkeiten.


Ja, es sei «une passion», bestätigt Marc Antiglio ohne Zögern, als er dem Besucher seine Modelleisenbahn vorführt. Er hat sie «Chemins de fer du Kaeserberg» getauft. Sie ist in einem eigens dazu erstellten Gebäude im Freiburger Vorort Granges-Paccot untergebracht und wird von einer gut dotierten Stiftung getragen, die Antiglio präsidiert. Der 72-Jährige hat sich mit dieser Anlage einen Bubentraum erfüllt. Die Faszination für die Eisenbahn habe ihn begleitet, seit er im Alter von fünfeinhalb Jahren von zu Hause ausgerissen sei, um am Bahnhof Freiburg den Zügen zuzuschauen, sagt er.

Die Kaeserbergbahn, die 2008 fürs Publikum geöffnet wurde, gilt als landesweit grösste Modellbahn. Auf 600 Quadratmetern rollen fast 90 kleine Züge über zwei Kilometer Miniaturgleise durch Landschaften, Dörfer und Tunnel. Die Zahlen sagen allerdings wenig aus über das, was Antiglio als Hauptqualität der Kreation bezeichnet, die er während siebzehn Jahren zusammen mit mehreren Mitarbeitern professionell geplant und gebaut hat: «Wir haben alles möglichst wirklichkeitsnah angefertigt.»

Auch Schmutz muss sein
Dargestellt sind eine typisierte Deutschschweizer und eine Bündner Landschaft aus den 1990er Jahren. «Damit das Ganze einheitlich wirkt, haben wir als Arbeitsgrundlage einen Herbstmorgen um elf Uhr gewählt», erläutert der ehemalige Patron einer Baufirma. Eine Fülle von Szenen und Details erweckt das Modell zum Leben. Der Pöstler trägt Pakete aus. Es werden Häuser renoviert. Die Spielzeugfiguren kaufen auf dem Markt Gemüse ein, sie sitzen in der Sonne, warten auf Züge, küssen sich sogar. Statt ans Meer zu fahren, habe er, oft während der Ferien, Zehntausende von Fotografien geknipst, die in die Anlage eingeflossen seien, sagt Antiglio. Er weist auf Details hin, die dem Laien zunächst nicht auffallen. So sind Lokomotiven und Wagen so präpariert, dass sie verschmutzt wirken, genau wie ihre grossen Vorbilder: «Sonst sähen sie ja aus wie Spielzeuge.»

Die meisten seiner Kunden versuchten die Realität detailtreu nachzubauen, sagt Michael Roder, der in Bern-Bümpliz ein Geschäft für Modelleisenbahnen führt. Die Anbieter kämen diesem Wunsch entgegen. Zur Illustration führt Roder einen Schlafwagen vor, in dessen Coupés selbst die Kissen in der richtigen Farbe bedruckt sind. Doch wer wählt dieses Hobby? Es sei eine männerlastige Beschäftigung, räumt Roder ein, aber werde quer durch die sozialen Schichten betrieben. In seinem Laden verkehrten Chefärzte und Nationalräte ebenso wie das Kind, das sein Taschengeld in Schienen investiere. Beim Zusammenbau erholen sich viele vom Alltag. Der pensionierte St. Galler Psychiater, Psychotherapeut und bekennende Modelleisenbahner Hans Peter Schönwetter spricht von einer «konzentrativen Selbstentspannung», die in dieser Gegenwelt zum Beruf möglich sei.

Etwas scheint allen Modelleisenbahnern gemeinsam: ihre Passion für die «richtige» Eisenbahn, die sie «Vorbild» nennen. Der harte Kern der Amateure organisiert sich in Klubs. In den Vereinslokalen bauen und betreiben sie gemeinsam eine Anlage, die sie manchmal dem Publikum vorführen. Jürg Reiman, Sekretär des Schweizerischen Verbands Eisenbahn-Amateur (SVEA), schätzt, dass landesweit gegen 200 solcher Klubs tätig sind. Davon sind 86 dem SVEA angeschlossen. Diese zählen insgesamt 4500 Mitglieder.

Der erste Verein wurde 1933 in Zürich gegründet. Unter dem Namen Schweizerischer Eisenbahn-Amateur-Klub Zürich (SEAK) existiert er heute noch. Er besitzt keine eigene Anlage, wurde aber von Modelleisenbahnern ins Leben gerufen. Sie hätten sich am Anfang «diskret» getroffen, denn Männer, die mit der Eisenbahn spielen, seien belächelt oder gar als verdächtig eingestuft worden, heisst es auf der Homepage. Etwas von diesem Image scheint übrig geblieben zu sein. Der Modelleisenbahner erreicht nicht die Coolness des Trendsportlers oder das Prestige eines Kunstsammlers. Er baut seine Anlage diskret im Estrich oder im Keller auf und präsentiert nur die schönsten Sammelstücke in einer Vitrine.

Für den anspruchsvollen Modellbahner ist «Isebähnle» mehr als ein Spiel. Die Klubs und ihre Mitglieder haben den Ehrgeiz, einen grossen Teil der nötigen Zutaten selber herzustellen, statt sie zu kaufen. Gebäude und Brücken, aber auch Gleise und sogar das Rollmaterial werden nachgebaut. Das mache die Sache vielseitig, rühmen alle Anhänger dieses Hobbys: Sie seien ein bisschen Elektriker, Architekt, Schreiner, Gipser und Landschaftsgärtner. Weil sie das Vorbild kennen müssen, lesen sie Fachmagazine und betreiben auch Feldforschung. Sie rücken mit Fotoapparaten aus, studieren Gleisanlagen und beschaffen sich Baupläne. Hinter dem Hobby des Modellbauers kann sich also ein zweites verstecken, jenes des Reisenden und Bahnexperten. Er kennt die Kurvenradien, weiss, wann welche Loks und Wagen im Einsatz stehen und wo sich die schönste Foto-Perspektive ergibt.

Dieser Teil des Hobbys nimmt dann grössere Dimensionen an, wenn sich das Vorbild nicht vor der Haustüre befindet. Werner Meer, der sich für nordamerikanische Züge begeistert, ist nach eigenen Angaben schon «x-mal» an den Cajon-Pass gefahren, um in diesem kalifornischen Bahn-Mekka die schweren Güterzüge vorbeirollen zu sehen. Ganz nebenbei habe er so die Wüste kennen und schätzen gelernt. Der pensionierte technische Kaufmann, der in Kilchberg einen «US-Railroad-Shop» führt, gehörte zu den Initianten der «Conventions», an denen die «American Railroadfans in Switzerland» seit 1981 ihre bulligen Dieselloks sowie die Bigboys, die grössten Dampfloks, durch Prärien schnauben liessen.

Die Jungen fehlen
Die 15. «Convention», die im Oktober 2012 in Adliswil stattfand, war die letzte. Die Railroadfans haben Nachwuchsprobleme. Wie die meisten Bahnklubs. Das bekamen auch Hersteller und Händler zu spüren, von denen einige ins Trudeln gerieten. Das hat laut Michael Roder auch mit den Versäumnissen der Branche zu tun. Sie habe zu lange die gleiche, nicht gerade billige Ware geliefert. Das habe sich nun geändert. Die Auswahl an Modellen sei grösser geworden, und natürlich ist längst auch das digitale Zeitalter angekommen. So lassen sich die Züge sogar von einem Smartphone aus einzeln steuern.

Aber vielleicht geht es in den Kellern nicht nur ums Technische, sondern darum, sich eine Miniaturwelt zu schaffen. Eine heile Welt ohne Streit, ohne Politik, eine, die reibungslos funktioniert. Ein Modell eben, das ein bisschen Paradies sein darf.